Konfuzius, das Lunyu und die Menschenrechte

Die Begriffe Konfuzius und Konfuzianismus gelten im Okzident als Substanz der ostasiatischen Gesellschaften. Obwohl sie in Asien in dieser Form unbekannt sind, werden sie im Westen häufig zur Erklärung einer gewissen Unterwürfigkeit in Beziehung zu Autoritäten oder gesellschaftlich höher stehenden Personen herangezogen. Sie scheinen das Fundament einer hierarchischen Gesellschaft zu sein, die der christlich geprägten Ordnung widerspricht. Das die Philosophie des Konfuzius und des ihm zugeschriebenen Lunyu keineswegs die Universalität der Menschenrechte ausschließt, ist dagegen relativ unbekannt.

Konfuzius
Konfuzius-Statue im Konfuzius-Temple in Shanghai

Der Konfuzianismus gilt als Essenz Chinas. Häufig werden mit ihm Begriffe wie Hierachie, Unterordnung und bedingungslose Pflichten verbunden Das der Konfuzianismus und sein berühmter Gründer Konfuzius die Menschenrechte und Menschenwürde als Fundament einer harmonischen Gesellschaft jedoch durchaus wahrnahmen, zeigt eine Analyse des Lunyu.

Das Lunyu ist eine Sammlung von Aussprüchen, Anekdoten, Zitaten und Gesprächen des Konfuzius. Da er keine eigenen Texte hinterließ, ist es von seinen direkten Schülern beziehungsweise späteren Anhängern geschrieben worden und existiert in verschiedenen Fassungen.

Seine insgesamt etwa fünfhundert Abschnitte sind in zwanzig Bücher gegliedert, die jeweils eine eigene Überschrift tragen. Da sie jedoch nur aus den ersten zwei Zeichen des jeweiligen ersten Abschnitts bestehen, sagen sie wenig über den Inhalt aus, vielmehr enthält jedes Buch verschiedene Themenkomplexe.

Der Text des Lunyu ist sehr kurz formuliert, die deutsche Übersetzung enthält in der Regel ein Vielfaches an Text als das Original. Somit ist der Inhalt relativ frei Interpretierbar, was sich in der Folge als Quelle für die vielen Kommentare zum Lunyu ergeben hat.

Für Konfuzius gibt keine prinzipielle Unterscheidung der Menschen in verschiedene Klassen und Stände. Er beschränkt die natürliche und gesellschaftliche Entwicklung des Individuums, nur auf dessen naturgegebenes Potential und persönlichen Willen:

Von Geburt an Wissen haben – das ist die höchste Stufe. Durch Lernen Wissen erwerben – das ist die nächste Stufe. Große Schwierigkeiten haben und trotzdem lernen – das ist dann die folgende Stufe. Schwierigkeiten haben und nicht lernen – das sind Leute der untersten Stufe. (XVI,9)

Allerdings ist eine Klassifizierung oder Suche nach dem Daseinszweck der Menschen und Welt, auch nicht der Kern der Aussagen von Konfuzius im Lunyu. Ihm geht es vor allem um die Lebbarkeit in dieser Welt, um praktische Erkenntnisse für die Gesellschaft, die es möglich machen die idealisierte Harmonie der Zhou wiederherzustellen:

Konfuzius sprach: „Die Zhou-Dynastie folgt den beiden vorangegangen Dynastien der Xia und Shang. Wie vornehm und kultiviert! Ich folge Zhou.“ (III,14)

Jedoch ist diese angestrebte Wiederherstellung keine bloße Nachahmung:

Ein Mensch, der nicht immer wieder darüber nachdenkt, wie er sich verhalten soll – mit dem weiß ich nichts anzufangen. (XV,16)

Um den Edlen (君子), der sich durch das Lernen und der Orientierung am Weisen (圣人) entwickelt, hervorzubringen und eine harmonische Gesellschaft zu konstituieren, bedient sich Konfuzius verschiedener Prinzipien. Besonders hervorzuheben sind vor allem die Sittlichkeit (礼) und die Mitmenschlichkeit (仁).
礼 kommt dem Ergebnis des Konzepts der Menschenwürde sehr nahe, denn durch sittliches Verhalten des Einzelnen, wird nach Konfuzius, weder Gewalt unter den Individuen, noch zwischen Regierenden und Volk herrschen. Zwingende Vorraussetzung dafür, ist eine korrekte Einhaltung der den jeweiligen gesellschaftlichen Positionen entsprechenden Verhaltensweisen. Diese, speziell in der Zhou-Dynasie besonders prägenden und weit entwickelten Kodizees, hat Konfuzius „in ihrer Gesamtheit zum Bewußtsein gebracht (…).“ (Karl Jaspers „Die großen Philosophen“ Band 1 S.161) Sie sind die Grundlage seiner Pflichtenethik.

Damit 礼 aber nicht zur hohlen Form wird und bereitwillig als Ordnungsprinzip Anerkennung findet, ist 仁 notwendig:

Konfuzius sprach: „Wer seine Pflichten gegenüber den Menschen (仁) nicht kennt, wie kann der die Riten und Umgangsformen (礼) einhalten? Wer seine Pflichten gegenüber den Menschen nicht kennt – wie kann der die Musik verstehen?“ (III,3)

Ran Qiu wollte wissen, was sittliches Verhalten (仁) sei. Konfuzius antwortete ihm: „Begegne den Menschen mit der gleichen Höflichkeit, mit der du einen teuren Gast empfängst. Behandle sie mit der gleichen Achtung, mit der das große Opfer dargebracht wird. Was du selbst nicht wünschst, das tue auch anderen nicht an. Dann wird es keinen Zorn gegen dich geben – weder im Staat noch in deiner Familie. Ran Qiu erwiderte: „Obwohl ich etwas unbeholfen bin, werde ich mich bemühen, nach euren Worten zu handeln.“ (XII,2)

Das hier genannte Verfahren in gegenseitiger Rücksichtsnahme, „Reziprozität“, ist negativ formuliert und unterstreicht damit nochmals den Pflichtencharakter der Lehre des Konfuzius. Da dem Betroffenen etwas nicht angetan wird, gibt es nur einen Aktiven, den Handelnden, dieser muß besonderes Einfühlungsvermögen beweisen.

Konfuzius strebt also nach Menschen, die das ganze Konzept der Menschenwürde verwirklichen und sich all seiner Formen, als fähig erweisen. Doch im Gegensatz zur bloßen Feststellung, dass mit diesen 君子 eine harmonische Gesellschaft existieren würde, gibt Konfuzius ganz realistisch Anleitung zur Formung der Menschen und fordert von jedem die Anstrengung derselben.

Daher soll nach Konfuzius, jedem die Möglichkeit zur Bildung, zum Studium der 礼, offenstehen:

Konfuzius sprach: „Bildung soll allen zugänglich sein. Man darf keine Standesunterschiede machen.“ (XV,39)

Es ist also eine Affinität des Lunyu zum Konzept der Menschenwürde zu erkennen. Darüber hinaus sind sogar vermeintlich westliche Gedanken im Lunyu vereint. Daher drängt sich die Frage nach dem Ausbleiben einer chinesischen Menschenrechtserklärung auf. Auch nach über zweitausend Jahren ist es leicht zu zeigen, dass das Lunyu genug Basis für solch eine schriftlich gefestigte Absicht zur Bewahrung der Menschenwürde bietet.

Ein wichtiger Punkt dagegen ist sicherlich der Charakter einer Pflichtenethik, die im Grunde ja keiner ausdrücklichen Rechte bedarf, da die Pflicht des einen realiter zum Recht des anderen wird. Zur Beantwortung dieser Frage reicht eine textimmanente Beschäftigung aber bei weitem nicht aus, man muß zur weitergehenden Betrachtung den Umgang der chinesischen Gesellschaften mit ihrem konfuzianischen Erbe analysieren.

Trotzdem soll hier formuliert werden, dass nach Erörterung des europäischen Weges hin zur heutigen Verfassung des Schutzes der Person, keinesfalls festgestellt werden kann, dass jener geradlinig oder ohne Unterbrechungen gewesen war. Vielmehr muss man sagen, dass dieser Weg ohne beständig begangen und bewacht zu werden, nichts als gute Absicht ist. Eben dieser möglichen Fehlkonstellation von vorhandenen Rechten und fehlendem Raum diese umzusetzen, zuvorzukommen, war und ist das Lunyu verpflichtet.

Es ist nichts weniger die Absicht des Konfuzius, als hochtrabende Aussagen bezüglich der dem Menschen innewohnenden Schönheit und eines selbstverständliches Schutzes für jeden Einzelnen zu verbreiten. Ganz im Gegenteil muss sich nach Konfuzius die Würde erst durch persönlichen Einsatz entwickeln und im Umgang mit den Mitmenschen beweisen. Deshalb ist zu vermuten, dass nach seiner Auffassung ein solches Konstrukt wie eine Menschenrechtserklärung, nicht nur überflüssig, sondern vielmehr Ausdruck von Hilflosigkeit der Herrschenden gegenüber der Ignoranz seiner Regierten und einer manifestierten Traditionslosigkeit der Bevölkerung ist. Diesem Umstand kann sich jedoch keine Regierung hingeben, die noch von der Kraft und Fähigkeit des Volkes und des Einzelnen zur Erschaffung einer allgemeinen Harmonie überzeugt ist.

Bild: © Rene Drouyer

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